Shisei - Haltung
Shisei heißt Haltung. Wie in unserer Sprache kann damit im Japanischen auch sowohl die rein äußerliche wie auch die innere Haltung gleichermaßen gemeint sein.
Innere und äußere Haltung sind unmittelbar miteinander gekoppelt. Die innere Haltung macht sich über die Körpersprache nach außen hin bemerkbar und es kostet sehr große Willensanstrengung und Selbstbeherrschung eine äußere Haltung einzunehmen, die der inneren nicht entspricht. Die Körpersprache ist die erste Sprache die wir lernen und es ist die Sprache, die universell verstanden wird. Da sie so schwer abzufälschen ist, ist es auch die verlässlichste Sprache überhaupt. Die Haltung die wir einnehmen gibt daher untrüglich Auskunft über unser Befinden.
Im Jiu-Jitsu versuchen wir ganz bewusst eine optimale äußere Haltung einzunehmen. Äußere Haltung ist optimal, wenn sie mit geringem muskulärem Aufwand im Gleichgewicht gehalten werden kann. Unser Körper ist so gebaut, dass das Skelett die Stützarbeit übernimmt wenn wir uns aufrecht halten. Jede Haltung die hiervon abweicht belastet die Muskulatur unnötig, weil sie Zugspannungen aufbauen muss um das Gleichgewicht zu halten. Für schnelle Bewegungen sind diese Spannungen jedoch hinderlich, da sie der Bewegung einen Widerstand entgegensetzen und sie so abbremsen. Die Gelenke alleine sind dagegen sehr beweglich aufgebaut, so dass sie im Grunde sehr schnelle Bewegungen ermöglichen.
Aber nicht nur die Geschwindigkeit unserer Bewegungen wird durch unnötige Muskelspannungen behindert, auch unser Bewegungsspielraum an sich. Wenn Muskulatur dauerhaft Haltearbeit übernehmen muss kommt es zu chronischen Verspannungen. Ein verspannter Muskel begrenzt die Bewegung noch bevor der durch die Gelenke vorgegebene Bewegungsspielraum überhaupt ausgeschöpft ist. Außerdem wird die betreffende Muskulatur nur mangelhaft durchblutet, denn Muskulatur behindert im Moment der Spannung den Blutfluss und gibt ihn erst im Moment der Entspannung wieder frei. Bei normaler Bewegung ergibt sich hieraus ein Pumpeffekt, der die Durchblutung und damit den Muskelstoffwechsel fördert. Bei Dauerspannung verschlechtert sich die Ernährungslage jedoch dramatisch. Dauerhafte Verspannungen führen zu Umbauprozessen in der Muskulatur. Der Muskel verkürzt sich und es bilden sich Bereiche in denen überhaupt keine Bewegung mehr möglich ist. Diese sind dann als hartnäckige Verhärtungen spürbar.
Die Haltungen im Jiu-Jitsu sind diesen Zusammenhängen optimal angepasst. In der normalen Grundstellung stehen wir entspannt aufrecht, unser Bewegungsspielraum ist in alle Richtungen frei so dass wir uns sehr schnell auf eine Veränderung der Situation einstellen können. Die anderen Stände sind dadurch gekennzeichnet, dass wir den Schwerpunkt absenken und in den Beine eine gewisse Vorspannung aufbauen, die eine explosionsartig schnelle Bewegung ermöglicht. Die Gesamthaltung jedoch bleibt immer aufrecht und Spannung wird nur kurzfristig im richtigen Moment aufgebaut. Alle Bewegungen kommen aus der Körpermitte und sind immer harmonische Bewegungen des ganzen Körpers. Dies ermöglicht uns eine maximale Beweglichkeit und Anpassungsfähigkeit.
Die beschriebenen Zusammenhänge einer optimalen äußeren Haltung lassen sich verallgemeinern. Die Anpassung an die äußeren Gegebenheiten, das heißt die Ausrichtung im Schwerefeld der Erde (Gleichgewicht), die Ausrichtung zum Gegner sind Vorraussetzungen dafür, dass unsere Bewegungen wenn sie denn aus der Körpermitte heraus erfolgen mit einem Minimum an Energie ein Maximum an Wirkung erzielen. Kurzfristiger Spannungsaufbau im richtigen Moment bewirkt dann zusätzlich ein Maximum an Kraftentfaltung. Wichtig ist dabei, dass wir unsere Bewegungen immer den äußeren Bedingungen anpassen und nicht erst die äußeren Bedingungen für unsere Bewegungen schaffen zu wollen. Wenn sich der andere in Vorlage befindet kann er beispielsweise sehr viel einfacher nach vorne als nach hinten geworfen werden.
Die äußere optimale Haltung ist leicht zu erklären und nachzuvollziehen. Doch was bedeutet das für die innere Haltung die sich ja bekanntlich in der äußeren spiegelt? Neben der Wirkung von innen nach außen gibt es auch eine Wirkung von außen nach innen. Genauso wie die innere Verfassung das äußere Erscheinungsbild beeinflusst wirkt umgekehrt eine bewusst eingenommene äußere Haltung nach innen. Die Erfahrung der sicheren aber unverkrampften Position festigt das Selbstbewusstsein. Das äußerlich gefundene Gleichgewicht fördert das innere. Wenn der Kopf auf der Halswirbelsäule ruht anstatt nach vorne abgesenkt an den Nackenmuskeln zu hängen ist der Überblick und damit auch die Wahrnehmung unserer Umgebung maximal. Genauso wie bei der äußeren Haltung müssen wir unsere innere Haltung daraufhin überprüfen inwieweit sie unserer Umgebung entspricht. Das gilt für die Ansprüche, die wir selbst an unsere Umgebung stellen in gleichem Maße wie für die Ansprüche, die wir an uns selber stellen. Wir müssen lernen in uns selbst zu ruhen ohne auf unseren Vorstellungen zu beharren.
Doch geraten wir beim Wort Shisei in einen Erklärungsnotstand, wenn wir uns von den japanisch bzw. chinesisch geprägten Kampfkünsten entfernen und versuchen eine Entsprechung in anderen Kampfkünsten des asiatischen Raumes zu finden. Wir als Europäer haben lange gebraucht erst einmal die äußere Haltung im Jiu-Jitsu zu lernen und zu beherrschen. Noch länger Zeit ist vergangen, die daraus resultierende innere Einstellung selbst auch nur andeutungsweise zu erfahren.
Dabei kommen einem Zweifel, ob wir es wirklich begriffen haben, oder ob wir wiederum einem Irrglauben erlegen sind.
Denn in Wirklichkeit maßen wir uns an durch 1000 Vollzeitstunden oder mehr auf der Matte und das Lesen von einigen Kampfkunstbüchern, die größtenteils aus der Trivialliteratur stammen und obendrein noch von Europäern geschrieben wurden, die tiefere Philosophie der asiatischen Kampfkünste begriffen zu haben und daher in der Lage sind sie im Sinne ihrer Auslegung zumindest ansatzweise erklären zu können.
Es ist schwierig, mit diesem erst gerade ansatzweise erworbenen Minimalwissen die körperliche sowie geistige Haltung zum Beispiel bei den indonesischen Pentjak-Silat Stilen erklären zu wollen.
Hier hat man sich beim Kampfsport nach unserem abendländischen Verständniss in der Evolution zurückentwickelt und imitiert die Haltung und Bewegung von Tieren. Als Beispiel seien hier Katzen, Schlangen und Affen genannt.
Erklären könnte man dieses Verhalten mit dem Ausdruck „zurück zur Erde“, da z. B. ein Affe einen extrem niedrigen Schwerpunkt hat. Bei den Handhaltungen gibt es auch Greif- und Schnabelbewegungen. Doch für uns am nächsten liegt wie immer der Ausweg die Erklärung im Sinne der Naturvölker zu suchen. Sie haben ihre Techniken aus der Beobachtung der Natur entwickelt, zu der sie einen noch viel unverdorbeneren Bezug haben als wir. Wer kann schon einen wilden Affen bändigen? Das bedeutet sicher nicht, dass diese Kämpfer in ihrer inneren Haltung zum Affen werden. Vielmehr ist es wohl so, dass sie nicht von der typisch westlichen arroganten Überheblichkeit anderen Lebewesen gegenüber eingenommen sind.
Eines jedoch kann man aus der Betrachtung ableiten, nämlich dass zumindest die äußere Haltung, wie wir sie lernen und weitergeben besser geeignet ist, Jiu-Jitsu zu beherrschen als ein affenartiger Stand. Man könnte auch sagen, die richtige oder geeignete Haltung ist die Basis der Kampfkünste und nicht umgekehrt. Das tiefere Verständnis ist nur ansatzweise zu vermitteln ansonsten gilt: „ein jeder mache sich seinen Reim selbst drauf“
Dieses mein Verständnis der inneren sowie äußeren Haltung möchte ich hiermit zur Diskussion stellen.
Kommentar von Klaus Möwius zu Shisei und Geiko
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Vorweg möchte ich herausstellen, dass Claudia und Hubertus einen guten Versuch starten, um obige Begriffe für "Westmenschen" zu erklären. Ich glaube, sie beleuchten das Thema gut, indem sie den asiatischen Begriffen die europäischen Formeln zu ordnen.
Jetzt meine Erklärung zum Thema. Weniger zum Objektiven, sondern mehr zum Subjektiven. Vorweg möchte ich sagen, dass ich von der Haltung und auch vom Üben (Shisei und Geiko) der asiatischen Freunde nicht enttäuscht, aber doch verwundert war. Ganz locker waren meine Freunde, im Dojo als auch in der Nachfolgezeit. Ernsthaft gingen diese, Japaner und Koreaner, an die Übungen mit viel Fleiß und Ausdauer heran. Aber überzogene Etikette in unserem Sinne kennen sie nicht. So wird in Japan eine Kata so gelaufen, wie es die Haltung (Shisei) des Einzelnen erlaubt. Statur, Gewicht und persönliche Tagesform spielen die Haltungsrolle. Die Körpersprache ist natürlich. Das Geiko hat einen persönlichen, friedlich in sich ruhenden Charakter. Ist das Geiko zu Ende, folgt eine Zeit der zufriedenen Freude. In der Regel geht diese einher mit guten Essen und Trinken. So habe ich in Japan an den bekannten Trainingsstätten, wie "Tenri und Tokai" erlebt, dass während der "zufriedenen Freude" nach dem Training den Asiaten ihr Berufsleben sehr wichtig ist. Es wird viel diskutiert ! Es wird meisten sehr spät und fröhlich, um dann am anderen Tag mit der gleichen persönlichen Ki, der Shisei und dem Geiko weiter zu machen, um Shizentai, die Stellung zu halten.
In diesem Sinne Euer Klaus Möwius
Marl, 09. März 2006
Klaus Möwius ist Präsident des KJJV
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