Ein Plädoyer an die Besinnung auf die Basis des Jiu-Jitsu
Die Vielfältigkeit des Jiu-Jitsu ist begeisternd. Die unübersehbare Anzahl von verschiedensten Techniken, die unerschöpflichen Variationsmöglichkeiten und die Kombinationen von unzähligen Bewegungsabläufen machen das Jiu-Jitsu so interessant. Gerade dies ist es, was die besondere Eigenart dieser Budo-Sportart ausmacht und von den meisten anderen Sportarten dieser Sparte unterscheidet.
Dieser ausgewiesene Vorteil des Jiu-Jitsu birgt jedoch auch Gefahren. In dem Dickicht von Hebeln und Würfen, Schlägen und Tritten, Würge- und Transporttechniken bleiben nur allzu oft die Grundelemente und -prinzipien einer effektiven Selbstverteidigung auf der Strecke. Immer häufiger gewinnt der Phantasiereichtum gegenüber dem in der tatsächlichen Selbstverteidigung erforderlichen. Das dann erst recht nicht mehr von Kampfkunst gesprochen werden kann, liegt auf der Hand.
Mehr und mehr ist festzustellen, dass die Grundelemente als Basis einer Bewegung missachtet werden und das Jiu-Jitsu zunehmend als spezifische Art der Selbstverteidigung sein Gesicht verliert. Denn Bewegungen ohne die Beachtung grundlegender Prinzipien mag sich Selbstverteidigung nennen, Jiu-Jitsu ist dies aber sicher nicht mehr. Zudem mag manches Mal bezweifelt werden, ob dies überhaupt noch seriöse Selbstverteidigung darstellt, denn die Grundelemente sind unverzichtbare Voraussetzung des Gelingens der Abwehr.
Jegliches Bewegen im Jiu-Jitsu lässt sich an den folgenden 10 Elementen messen. Insofern sind dies die Säulen der Bewegung im Jiu-Jitsu.
Ich muss mich - um den Rahmen hier nicht zu sprengen - zunächst auf die Darstellung der 10 Grundelemente des Jiu-Jitsu beschränken. Eine kompakte Darstellung der 10 Grundprinzipien schließt sich daran evt. - in einem (späteren) weiteren Aufsatz - an.
1. Hara - Körpermitte
Wörtlich übersetzt bedeutet hara Bauch (auch fukubu oder onaka) und ist zunächst einmal körperlich gesehen der Schwerpunkt des Leibes, also ein räumlich bestimmbares Zentrum. Gemeint ist die Gegend vom Magen bis zum Unterleib. Das eigentliche Zentrum liegt im Unterbauch, kurz unter dem Nabel. Ein gut ausgeprägter hara wird deutlich in einem tiefen, festen Stand, einer korrekten Haltung, einer regelrechten Verbundenheit zum Boden, einer spannungsgeladenen Leichtigkeit der Bewegung.
Im fernen Osten hat der hara jedoch nicht nur eine anatomische oder physikalische, sondern eine weitreichendere Bedeutung als unser Bauch-Begriff. Er ist vielmehr auch im religiösen und philosophischen Sinne "die eine Mitte" sowie "Sitz des Lebens", gilt als geistige und körperliche Kraft.
Der vollendete hara, das heißt das Sich-Befinden in seiner körperlich-geistigen Mitte, ist jedoch keine natürliche Veranlagung, sondern vor allem ein Ergebnis der jahrelangen Übung in einer Wegkunst. Jede Bewegung muss daher von Anfang an unter Beachtung des hara ausgeführt werden. Erst dann wird Selbstverteidigung zur körperlichen Perfektion und führt zu einer Ausdrucksform der inneren Befindlichkeit.
Praktisch ist daher die Technik mit tiefem Stand und im entscheidenden Moment unter Anspannung der Bauchmuskulatur auszuführen. Durch Übung spürt man nach und nach mehr, dass jegliche Bewegung und Kraft aus dem Mitte des Körpers, aus dem hara entspringt.
2. Kokyu - Atmung
In allen Bereichen der sportlichen Aktivität ist die Atmung ein wichtiger Faktor der Leistungsfähigkeit. Um große Kraftanstrengung zu leisten, um konzentriert ruhige Bewegungen exakt auszuführen, um lange Ausdauerleistungen zu vollbringen – immer ist die Atmung entscheidender Faktor der sportlichen Betätigung. Daher kommt natürlich auch im Jiu-Jitsu der Atmung wesentliche Bedeutung zu. Hier ist sie es, die den Rhythmus und die Dynamik der Technik mitbestimmt und die die Energie an der richtigen Stelle freilässt.
Aber nicht nur die körperliche Leistungsfähigkeit wird durch die richtige Atmung beeinflusst. Vielmehr wird gerade durch die Atmung die Verbindung zwischen Körper und Geist besonders deutlich. Man erinnere sich nur daran, dass man bei einer bevorstehenden schwierigen Aufgabe erst einmal "tief durchatmet" oder bei einem großen Schrecken automatisch schnell einatmet, danach entspannt und lange ausatmet. Dieser augenscheinliche Zusammenhang zwischen Atmung und psychischer Verfassung muss in der Selbstverteidigung bewusst genutzt werden. In kritischen Situationen können wir durch Beachtung der ruhigen Atmung auch unsere eigene Nervosität, also die in dieser Situation labile Verfassung, bewusst beruhigen und somit stärken. Auch nutzen wir die bewusste starke Ausatmung bei großer Kraftanstrengung, verbunden mit dem durchdringenden Ton des kiai bewusst in der Selbstverteidigung.
Daher ist immer auf die richtige Atmung zu achten, dies bei jeglicher Bewegung auf der Matte, sowohl bei der Aufwärmphase (jumbi-undo), wie auch bei Fallschule (ukemi) und vor allen Dingen natürlich auch bei Ausführung der Abwehrtechniken (fusegi-waza). Als Grundregel muss gelten : bei auch noch so kleiner Kraftanstrengung einatmen, bei Entspannung ausatmen. Nur dadurch wird die Abwehr eine harmonische, "runde" Bewegung. Muss auch der Anfänger immer wieder ans richtige Atmen erinnert werden, wird es ihm schnell in Fleisch und Blut übergehen und er wird ganz von selbst die Atmung der Bewegung anpassen
3. Kiai - Kampfschrei
Der Begriff besteht aus den beiden Silben ki für Energie, vitale Kraft und ai, was Harmonie, Liebe oder auch Anpassung bedeutet und äußerlich ist kiai ein lauter Schrei.
Zu übersetzen ist kiai frei mit "Versammlung von Energie". In Japan ist dafür auch der Begriff yagui bekannt.
Es handelt sich dabei nicht einfach um einen Schrei, der aus der Kehle kommt. Vielmehr kommt kiai von selbst aus dem hara heraus und ist sehr mit der Atmung, dem kokyu verbunden. Der Experte des kiai-jutsu unterscheidet verschiedene Formen des kiai, die sich aus der Position der Zunge ergeben. Ist es einmal ein breiter voller Ton, so kann es auch ein heller, spitzer Ton werden. Immer kommt er aber aus der Tiefe des Ausführenden und ist somit individuell verschieden. Durch die zwei Silben ki und ai wird deutlich, dass es sich beim Hervorbringen nicht um eine rein körperliche, sondern auch um eine geistige Sammlung handelt. Dies ist auch in westlichen Sportarten zu beobachten : Der Sportler gebraucht den Schrei, um höchste körperliche und geistige Anspannung zu entladen (so etwa deutliche zu beobachten bei den Gewichthebern oder den Diskuswerfern). Dieser scheinbar automatische Vorgang nutzt der Budo-Sportler bewusst aus : der Jiu-Jitsu-ka lässt nicht dem Schrei die Kraftanstrengung folgen, sondern er setzt den kiai bewusst ein, um gerade die große Kraftanstrengung zu ermöglichen. Dies unterscheidet ihn von den Kraftsportlern. Ein Stoß oder ein Tritt kann erst durch einen vollendeten kiai seine verheerende Wirkung entfalten, wobei die gesamte körperliche und geistige Energie in einer Handlung verschmelzt. So ist der Schrei also eng mit der Psyche verbunden. Im Zustand höchster Wachsamkeit und Entschlossenheit bringt der Jiu-Jitsu-ka seine gesamte körperliche und geistige Energie auf einen Punkt. Kiai ist damit die Verbindung der inneren Verfassung mit dem äußeren Tun.
Der kiai bringt nicht nur eine Stärkung der eigenen psychischen Befindlichkeit des Ausführenden, sondern wirkt darüber auch intensiv auf den Angreifer. Kampfsportexperten behaupten, dass es kiai-Formen gibt, durch die man einen Gegner lähmen oder gar töten kann. Ist dies vielleicht auch mehr in die Budo-Fabeln einzuordnen, so kann auf jeden Fall der Bruch der Konzentration beim Angreifer zur Vollendung der Technik genutzt werden. Er hat damit auch die Funktion, sich selber zu ermutigen und den Gegner zu entmutigen.
Daher ist es wichtig, den kiai immer wieder zu üben und dass dieser finale Techniken begleitet. Er gehört damit zur Bewegungsausführung. Kommt der Ton unbewusst aus der Tiefe, so ist die Verbindung zwischen Wille und Tun hergestellt.
4. Kime - Kraftkonzentration
Mit kime wird vor allen Dingen in den sogenannten "harten" Kampfkünsten die Kraftkonzentration am Ende einer Technik bezeichnet. Dies ist nicht nur bei Schlägen, Stößen und Tritten, sondern auch bei Würfen, Hebeln und anderen Techniken zu beachten. Ein Technik kann nur dann mit richtiger kime ausgeführt werden, wenn die zuvor beschriebenen Elemente des hara, kokyu und auch kiai ineinander spielen. Hier wird deutlich, dass es letztlich alle Elemente sind, die eine perfekte Bewegung im Jiu-Jitsu erzeugen. Insofern bedingen die Elemente einander.
Mit der Übung des kime sollte jedoch nicht zu früh begonnen werden. Die Konzentration hat anfangs in erster Linie der richtige Bewegungsausführung zu gelten. Erst wenn die Bewegung der einzelnen Technik sicher beherrscht wird, kann man sich der Kraftkonzentration widmen. Eine zu frühe Betonung auf kime birgt die Gefahr, dass die Bewegung von Anfang an zu verkrampft ausführt wird, welches die Harmonie grundlegend stört. Ohne Lockerheit kann keine effektive Technik ausgeführt werden. Daher bietet sich erst für die Schüler der Mittelstufe ein Hinführen zur Beachtung des kime an.
5. Shisei - Haltung
Der Haltung wird von vielen Lehrenden des Jiu-Jitsu zu wenig Beachtung geschenkt. Teilweise wird die Meinung vertreten, beim Jiu-Jitsu komme es auf Selbstverteidigung an und bei dieser sei die Beachtung der Körperhaltung unnötiger Ballast. Dem trete ich entschieden entgegen. Die Beachtung des shisei ist nicht nur ein überkommener Ausdruck des Verständnisses des Jiu-Jitsu als Kampfkunst. Vielmehr ist die korrekte Haltung unerlässlich, um den Anforderungen der Selbstverteidigung gerecht zu werden. Schnelle Reaktion, direkte Aktion sowie sichere Körperwendungen sind nur bei korrekter Körperhaltung zu erreichen. Muss man erst sein Gleichgewicht herstellen und sich selbst erst "sortieren", ist man oftmals für die Verteidigung schon viel zu langsam. Ebenso gilt dies für die Eingänge in Würfe, für Tritte und Stöße. Als sekundärer Effekt bekommt das Jiu-Jitsu natürlich damit das persönliche Gepräge des jeweiligen Ausführenden, der so seine eigene körperliche Ausdrucksform herausbildet. Dies als Nachteil zu empfinden, wäre abwegig, es ist vielmehr sehr wünschenswert.
Darüber hinaus kommt der Haltung auch eine psychische Bedeutung zu. Die körperliche Haltung ist ein Ausdruck der inneren Einstellung. Durch das Zurechtrücken der körperlichen Form entsteht ein Einfluss nach innen, durch den der Mensch seine Gesamthaltung korrigieren kann. So wird in Japan der Begriff shisei nicht nur für die äußere Form, sondern auch für die rechte innere Haltung verwendet. Haltung bedeutet also auch eine besondere, innere Einstellung zu sich und seiner Umwelt. Durch ständiges Üben und Bewusstmachen der äußeren Form wirkt diese auch nach innen.
Durch shisei wird das natürliche, ungekünzelte Selbstbewusstsein nach außen gebracht. So ist durch sicheres Auftreten schon so manche Konfliktsituation im Keim erstickt worden, ohne dass es zur körperlichen Auseinandersetzung kommen musste : Die höchste Form des Jiu-Jitsu !
Die Übung des shisei ist somit ein weiterer Baustein im fassettenreichen Jiu-Jitsu, nicht nur unsere Technik, sondern auch unseren Charakter zu vervollkommnen.
Daher muss von vorne herein auf eine gute Haltung geachtet werden. Beim Sitzen - Stehen - Bewegen - immer hat der Körper aufrecht, entspannt zu sein. Immer ist auf natürliches Gleichgewicht zu achten. Wichtig ist dabei, dass man nicht verkrampft. Dies muss durch ständiges, bewusstes Trainieren geübt werden. Aus diesem Grunde hat auch die Bewegungslehre eine nicht zu unterschätzenden Stellenwert im Training.
6. Kamae - Stellung
Mit diesem Begriff wird die generelle Bereitschaft bezeichnet. Damit meint man körperliche (auch kamaekata oder mi-kamae bezeichnet), wie auch geistige Bereitschaft (ki-kamae).
Als Merkmal der körperlichen Bereitschaft geht kamae über den zuvor erläuterten Begriff des shisei hinaus. Gemeint wird hier nämlich die gesamte körperliche Beziehung zum Angreifer. Davon erfasst sind somit die Fußstellung (dachi), die Armhaltung, das Gleichgewicht (ku), die richtige Distanz (ma-ai) und auch die Haltung der Augen (metsuke). Je nach Verteidigungssituation ist demnach der gesamte Körper durch das richtige kamae in die Situation zu versetzen, den Angriff bestmöglichst abzuwehren. Dieses Merkmal ist so wichtig, da auch die beste Verteidigungstechnik nur funktionieren kann, wenn man sich von vorne herein in die Lage versetzt, die Technik überhaupt wirkungsvoll anzubringen. Insofern beginnt die Selbstverteidigung schon vor dem eigentlichen Angriff ! Der Verteidiger hat somit körperlich die bestmöglichen Voraussetzung für die Abwehr zu schaffen.
Dazu ist die geistige Komponente des kamae, das sogenannte ki-kamae, unerlässlich. Dies umfasst die Elemente der Geistesgegenwart (zanshin, siehe unten), des Voraussehens (yomi), der Initiative (sen), der Gelegenheit (kikai) und nicht zuletzt des Kampfgeistes (kihaku).
Also müssen schon im Vorfeld der Selbstverteidigung die körperlichen wie geistigen Fähigkeiten bewusst eingesetzt werden, um eine reelle Chance zu haben, Angriffe abzuwehren. Allzu oft wird leider der Schwerpunkt ausschließlich auf das Erlernen der Technik gelegt. Es ist aber unerlässlich, den Schülern immer wieder die Wichtigkeit des kamae vor Augen zu führen. Üben der richtigen Verteidigungshaltung, der Stände, der richtigen Distanz und Stellung zum Angreifer etc. gehören dazu. Dazu sollte immer wieder mit verschiedenen Partnern trainiert werden und das randori, das lockere Üben der Techniken auf verschiedenste Weise, nicht vernachlässigt werden.
Bezüglich der geistigen Komponente von kamae kann der Lehrende mit anschaulichen Beispielen aus der Praxis die besondere Bedeutung der Wachsamkeit darstellen, worauf ich jedoch bei der Erläuterung des neunten Merkmals - der Geistesgegenwart - näher eingehen möchte.
7. Sokudo - Schnelligkeit
Das A und O einer jeden Selbstverteidigung stellt sokudo dar. Ohne Schnelligkeit ist jede Verteidigung aussichtslos. Wird man angegriffen, so hat die Abwehr so schnell wie möglich zu erfolgen. Nur so können weiteren Angriffs- und Verteidigungshandlungen des Gegners vorgebeugt werden. Handeln wir nicht schnell genug, so folgen weitere Angriffe. Ebenso verkrampft der Gegner und wehrt Verteidigungsmaßnahmen unsererseits ab.
Der Trainer hat darauf zu achten, dass er alle Techniken neben der langsamen, erklärenden Darstellung auf jeden Fall auch schnell vormacht. Das intuitive Lernen führt dazu, dass schon ganz unbewusst der Schüler von Anfang an merkt, dass sokudo ein wesentliches Element des Jiu-Jitsu ist.
Darüber hinaus bedarf es jedoch auch eines speziellen Schnellkrafttrainings, denn bekanntlich ist Schnelligkeit keine Hexerei. Das Schnelligkeitstraining gehört somit zum festen Bestandteil der Unterrichtsstunden. Die Schnelligkeit wird nicht allein von der Beschaffenheit der Muskeln bestimmt, sondern hängt in hohem Maße auch von den Regulationsvorgängen des Nervensystems ab. Die Verkürzung der Verbindung zwischen dem zentralen Nervensystem und dem explosionsartigen Einsatz möglichst vieler Muskelgruppen ist Inhalt des Schnelligkeitstraining. Insofern ist Schnelligkeit also eng mit dem Element der Kraft verbunden. Diese Verbindung ist im Rahmen der Automation herzustellen. Es ist immer wieder die gleiche Bewegung durchzuführen, um so ein ständiges Wechseln zwischen An- und Entspannung zu erreichen. Am Ende der Aufwärmphase kann durch spezielle Schnellkraftübungen die erforderliche Grundlage für sokudo gelegt werden.
Die Hauptform der Übung des sokudo im Jiu-Jitsu ist die Wiederholungsmethode: Es ist eine Bewegung immer wieder auszuführen. Fauststöße, Tritte, Blöcke sind am Partner oder auch mit einem Gummiseil zu üben. Für den Bereich der Würfe bietet sich uchi-komi, die Übung des Wurfeingangs, an. Dabei wird ein Wurfeingang immer wieder ausgeführt, ohne uke tatsächlich zu Fall zu bringen.
Hier ist es Aufgabe des verantwortlichen Trainers, für ein in dieser Hinsicht ausgewogenes Training zu sorgen.
8. Kincho - Wechselspiel
Eine wichtige Verbindung und Ergänzung der genannten Elemente ist kincho. Dieses verkürzt mit "Wechselspiel" bezeichnete Element meint das ständige Umschalten des Körpers zwischen Anspannung und Entspannung. Beides bedingt einander – praktisch nach dem Prinzip von jing und jang gibt es das eine ohne das andere nicht.
Leider muss man auch bei Fortgeschrittenen immer noch oft feststellen, dass viele Bewegungen zu verkrampft ausgeführt werden. Durch Anspannung kann jedoch keine Schnelligkeit, dem essentiell wichtigen Element des Jiu-Jitsu, entstehen. Mit zu großer Lockerheit kann andererseits kein wirksamer Wurf oder Schlag ausgeführt werden.
Daher ist jegliches Bewegen auf der Matte und so auch in der realen Selbstverteidigung geprägt von dem ständigen Wechsel zwischen Lockerheit und Spannung. Es muss dabei aber von vorne herein darauf geachtet werden, dass die Grundhaltung sehr entspannt zu sein hat. Nur im entscheidenden Moment des kime, der Punkt der Kraftkonzentration, hat eine bedingungslose Anspannung zu erfolgen. Ein sicheres, später intuitives Beherrschen des Prinzips von kincho wird beim Fortgeschrittenen durch exakte, schnörkellose und entschiedene Bewegungen deutlich. Den wahren Fortschritt erkennt man daher nicht an der Gurtfarbe, sondern an der Beherrschung gerade dieses Grundelementes.
9. Zanshin - Geistesgegenwart
Bereits bei der psychischen Komponente des kamae habe ich darauf hingewiesen, dass nicht alleine das Erlernen und richtige Ausführen der Technik den Erfolg im Jiu-Jitsu garantiert.
Vielmehr darf die innere, psychische Befindlichkeit des Jiu-Jitsu-ka nicht außer acht gelassen werden. Schließlich ist es bei besonderen Leistungen immer die psychische Konstitution, die den Ausschlag für gelingen oder nicht gelingen gibt. So sagen denn auch viele Sportler in anderen "Spielsportarten", dass das Spiel letztlich "im Kopf" entschieden wird. Bei Leistungen außerhalb des sportlichen Bereichs ist es nicht anders.
Daher muss der fortgeschrittene Lehrer immer diese Komponente bei der Erläuterung der Techniken im Auge haben.
Zanshin bedeutet Geistesgegenwart und meint damit einen ruhigen, aber wachen Geisteszustand. Man soll nicht an vergangenem haften, nicht schon an zukünftiges Denken. Man kann nur frei und konsequent Bewegungen ausführen, wenn man auch geistig in der Gegenwart ist.
Die Aufregung in einer Verteidigungssituation ist dabei unser größter Feind. Durch ständiges mentales Training haben wir jedoch die innere Stärke, selbstbewusst und ruhig zu handeln, ohne die Dynamik und Entschlossenheit zu verlieren. Zum Ruhigwerden hilft uns die Beachtung der anderen Grundelemente : Ein gerade Haltung, die richtige Position, die Konzentration auf die Mitte des Körper und vor allen Dingen die richtige Atmung lassen uns unseren Geist beeinflussen. Nicht zuletzt deshalb hat die Atmung und die Haltung einen so hohen Stellenwert auch in der Meditation. Durch diese gesamtheitliche Beachtung der wichtigen Grundelemente des Jiu-Jitsu und der ständigen Auseinandersetzung mit dem "Ernstfall" bekommen wir ein psychisches Korsett, dass uns die kritische Situation der Selbstverteidigung nicht aus "unserer Mitte bringen" kann.
Der Lehrer muss daher alle Elemente gleichsam lehren und die Zusammenhänge verdeutlichen. Er muss die Schüler nicht nur körperlich, sondern auch psychisch auf die Verteidigungssituation vorbereiten. Eine schwierige, aber interessante und in ihrer Bedeutung nicht zu unterschätzende Aufgabe !
Die besondere Atmosphäre im dojo ist Grundvoraussetzung für ein Üben des zanshin. Hier hat man Zeit, aus dem Alltag auszusteigen und sich voll und ganz der Übung zu widmen. Daher ist ein dojo nicht zu vergleichen mit einer westlichen Turnhalle. Das ganzheitliche Erleben des Jetzt lässt die Konzentration wachsen, führt zu innerer Ruhe und aktiver Gelassenheit. Eine strikte Einhaltung der Etikette ist daher so wichtig. Schon von der ersten Sekunde des Betretens muss alles mit zanshin ausgeführt werden, sei es das Betreten, das Grüssen, das Trainieren, und auch das Verlassen des Übungsraumes.
Durch ein allgemein ruhiges, sicheres Auftreten auf der Matte und auch außerhalb bringt der Lehrer schon unbewusst das Grundelement des zanshin dem Schüler nahe. Eine Tat ist gerade hier mehr als tausend erklärende Worte.
10. Seikaku - Genauigkeit
Das gesamte Jiu-Jitsu basiert auf dem Grundprinzip, durch erlernte Methoden einen körperlich überlegenen Angreifer schließlich doch bezwingen zu können. Dies kann aber nur erfolgreich sein, wenn man diese Methoden (=Techniken) nie oberflächlich anwendet. Andernfalls kann die Verteidigungshandlung nämlich schnell in ein Desaster enden. Daher gilt vor allen Dingen für die Schläge, Tritt und Stöße das Prinzip des seikaku, der Genauigkeit. Es ist unerlässlich, einen Schlag auf die bestimmten Vitalpunkte, die sogenannten Atemi-Punkte am Körper zu platzieren. Nur beim Treffen auf den richtigen Punkt kann die gewünschte Wirkung erzielt werden. Nur wenige Zentimeter daneben, und die gesamte Verteidigung hat keinen Erfolg. Wildes, unkontrolliertes Einschlagen auf den Angreifer ist beim Jiu-Jitsu tabu. Nur das genaue Anvisieren der Atemi-Punkte führen auch zu einer kontrollierten Verletzung des Angreifers. Insofern kommen wir auch unserer Fürsorgepflicht gegenüber dem Angreifer nach. Geht es doch nicht darum, den Angreifer bedingungslos zu vernichten, sondern ihn nur soweit zu beeinträchtigen, wie er uns oder dritte beeinträchtigt.
Insofern bringt seikaku uns dazu, kontrolliert und überlegen die Verteidigungshandlung zu vollendet. Regelmäßiges Pratzentraining, Training am Sandsack und ständiger Partnerwechsel helfen uns, im Laufe der Zeit immer genauer die Techniken auszuführen.
Nicht zuletzt dient seikaku auch der Vermeidung von Verletzungen im Training, denn nur wenn genau mit Bedacht gehandelt wird, können gefährliche Atemi-Techniken rechtzeitig gestoppt werden.
Schließlich hat die Beachtung des seikaku noch den Effekt, den Schüler zu disziplinieren. Er muss sich immer wieder, um die Genauigkeit zu erreichen, ruhig aber kraftvoll zu handeln. Ein Erforderniss, welches die allgemeine Geisteshaltung nachhaltig prägt. Hier wird die Verbindung zwischen der äußeren Technik und der inneren Charakterschulung in praxi deutlich.
Schlussbetrachtung
Die vorstehenden 10 Elemente sollen bei nahezu jeglicher Bewegung im Jiu-Jitsu zu einer Einheit verschmelzen. Es sind dies die Säulen der Bewegung einer jeden Kampfkunstübung, die Basis des Jiu-Jitsu, ohne die dieser japanische Budo-Sport nur Selbstverteidigung wäre. Die Elemente bedingen einander, oftmals wäre das eine ohne das andere wirkungslos. Durch Beachtung der Elemente gewinnt die Bewegung erst an Dynamik und Rhythmus und wird zum einheitlichen Ganzen. Darin wird deutlich, dass das Jiu-Jitsu keine einfach zu erlernende Selbstverteidigungsmethode oder Sport ist, aber gerade dadurch einen ganz besonderen Reiz gewinnt.
Zudem darf bei der Bewegung die psychische Komponente der meisten Elemente nicht vernachlässigt werden, da die Beachtung zum Verteidigungserfolg und zur Charakterschulung unerlässlich ist.
Prima facie sind viele Elemente für den Ausführenden eine Selbstverständlichkeit. Doch bedarf es einer ständigen Bewusstmachens und Trainierens unter Beachtung dieser Elemente, um sich positiv weiterzuentwickeln.
Es ist also die anspruchsvolle Aufgabe des Lehrers, Jiu-Jitsu als Gesamtheit mit all seinen Erfordernissen bei der Bewegung den Interessierten näher zu bringen. Er muss sich daher intensiv mit den vorstehenden Grundelementen der Bewegung auseinander setzen. Ihm müssen die Zusammenhänge bewusst sein, eine Umsetzen in das regelmäßige Training gelingen. Dies ist das Anliegen der vorstehenden vertieften Erläuterungen.
Denn : einzelne Techniken zeigen kann auch der fortgeschrittene Schüler. Aber Jiu-Jitsu systematisch lehren und in seiner kompletten Bandbreite zu erfassen, bedarf der intensiven Auseinandersetzung und des variantenreichen Näherbringens. Dadurch verbessert der Dan-Träger seine Technik und wird auch zum guten Lehrer !
Kerpen, im Oktober 1999
Holger Nimtz
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