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Gewaltprävention      (Claudia Schröder)
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Jiu-Jitsu aus der Perspektive der Gewaltprävention

Prävention heißt Verhinderung, Vermeidung. Gewaltprävention wäre demnach die Vermeidung von Gewalt. Im folgenden soll versucht werden darzustellen, ob, und wenn ja in wieweit, Jiu-Jitsu zur Vermeidung von Gewalt beitragen kann.

Leben wir in einer besonders gewalttätigen Gesellschaft?

Es lässt sich eine allgemein gestiegene Kriminalitätsfurcht beobachten. Zu dieser Furcht gehört besonders die Angst vor zunehmender Gewalt. Vom Kölner Stadtanzeiger wurde zusammen mit Radio Köln im Sommer 99 eine Umfrage zu eben diesem Thema durchgeführt. Hiernach haben 45 % der Befragten Angst, nachts auf die Straße zu gehen. Zwei Drittel der befragten Frauen und ein Viertel der Männer gaben an, im Dunkeln Angst zu empfinden. Diese Angst wird mit zunehmenden Alter stärker, ist aber auch bei den 16 – 24 jährigen sehr weit verbreitet. Inwieweit die Angst in diesem Maße tatsächlich berechtigt ist, oder es sich eher auf eine von marktschreierischen Medienberichten geschürte Verunsicherung handelt, ist schwer zu beurteilen. Zumindest für Köln gilt, dass die Bevölkerung ihre Stadt als zunehmend unsicher empfindet, obwohl gleichzeitig die Kriminalitätsrate auffallend zurückgegangen ist (ca. 10 % im ersten Halbjahr 99).

Auch das Phänomen gewalttätiger Gruppen von Jugendlichen oder jungen Erwachsenen ist keineswegs neu. In den 70ern gab es die Rockerbanden, die marodierend durch die Großstädte gezogen sind. Heute sind es die Rechtsradikalen, die Hooligans, Punks und andere Gruppen. Unsere Gesellschaftsgeschichte ist voll von ähnlichen Beispielen und eine weitere Aufzählung würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen.

Gewalt ist also nicht wie häufig behauptet wird ein Phänomen unserer Zeit, sondern ist fester Bestandteil der menschlichen Gesellschaft oder anders gesagt, sie stellt nach wie vor ein ungelöstes Problem dar.

Die Erscheinungsformen von Gewalt sind äußerst vielfältig. Über die Ursachen streiten sich die Gelehrten. Es gibt die unterschiedlichsten Erklärungsansätze für die Entstehung von Gewalt. Und für jede Theorie gibt es mindestens eine Gegentheorie. Bisher ist noch kein Patentrezept zur Gewaltvermeidung gefunden worden und es steht zu bezweifeln, ob es so etwas überhaupt gibt.

Auch und gerade Kampfsportler kommen am Thema Gewalt nicht vorbei. Für die meisten Anfänger ist die Angst vor Gewalt der hauptsächliche Grund sich für Kampfsport überhaupt zu interessieren. Andererseits ist Kampfsport ja im Prinzip nichts anderes als die wenn auch spielerische und ritualisierte Ausübung von Gewalt. Daher stellt sich auch die Frage, ob Kampfsport nicht gewalttätiges Verhalten erst fördert. Auf diese beiden Aspekte, zum einen den Anspruch, sich selbst vor Angriffen schützen zu können und zum anderen der mögliche Einfluss auf die eigene Gewaltbereitschaft möchte ich näher eingehen.

Ist Kampfsport, speziell Jiu Jitsu geeignet, sich selbst vor Gewalt zu schützen?

Der Anspruch effektive Selbstverteidigung zu bieten bildet für fast alle Interessenten an Jiu-Jitsu einen mehr oder weniger starken Anreiz einzusteigen.

Dieser Anreiz resultiert aus einem allgemeinen teilweise sehr stark ausgeprägten Unsicherheitsgefühl und Ohnmachtgefühl. Das oben erwähnte Kölner Beispiel macht dies deutlich. Deutlich wird aber auch, dass dieses Gefühl der Bedrohung oft in keinem Verhältnis zur tatsächlichen Gefahr steht. Dies gilt insbesondere, wenn man einmal den, wenn auch etwas zynischen, Vergleich zu anderen „Lebensrisiken“ aufstellt. Die Berichte über Autounfälle halten kaum jemanden davon ab Auto zu fahren. Im Gegensatz hierzu steht die Kriminalitätsangst und besonders die Angst vor Gewalt.

Eine übersteigerte Angst ist aber nicht sinnvoll, weil die natürliche Funktion von „Angst“, nämlich vor Schaden zu schützen, nicht mehr gegeben ist. Die Angst selbst wird zum Schaden. Wer sich im Dunkeln nicht mehr allein auf die Straße traut, dessen Bewegungsfreiheit und damit Lebensqualität wird besonders im Winter erheblich eingeschränkt. Ein Großteil der Bevölkerung zeigt dieses angstbestimmte Verhalten. Dadurch wird es allgemein akzeptiert, schlimmer noch, es wird sogar zur gesellschaftlichen Norm. Der einsame Waldlauf wird so zum Abenteuer.

Das Zurückfinden zu einem gesunden Angstmaß ist ein psychologisches Problem. Die Fähigkeit, Situationen richtig einzuschätzen, muss neu erworben werden. Es wäre also notwendig, ein Gefühl für die Bedrohung zu entwickeln, das der tatsächlichen Gefahr entspricht. Die wenigsten Angriffe kommen völlig überraschend aus heiterem Himmel. Ich glaube jeder von uns hat ein mehr oder weniger gut ausgeprägtes instinktives Gefühl für Bedrohung. Es ist nur im Laufe unseres Lebens mehr oder weniger verschüttet. Die einen, haben ein Übermaß an Angst, weil ihnen immer wieder suggeriert wurde, wie schwach und hilflos sie selber und wie böse und gefährlich die Welt um sie herum ist. Es gibt aber auch das Gegenteil. Das sind diejenigen, die sich ihre Angst abgewöhnt haben. Die einen sind überängstlich, die anderen zu leichtsinnig.

Man muss daher lernen die Zeichen richtig zu deuten, um frühzeitig reagieren zu können. Das richtige Erkennen von bedrohlichen Situationen ist die eine Seite. Wenn sie dann tatsächlich eintritt, ist das eigene Verhalten die andere Seite. Bei frühzeitiger Wahrnehmung, hat man eventuell noch die Möglichkeit sich zurückzuziehen. Sei es, dass man selber noch nicht bemerkt wurde, sei es, dass die Fluchtdistanz ausreichend ist. Selbst wenn ein Ausweichen, aus welchen Gründen auch immer, nicht mehr möglich sein sollte, muss sich hieraus noch lange kein Angriff entwickeln. Auch ein potentieller Angreifer versucht die Lage einzuschätzen und er ist normalerweise nicht darauf aus, selber verletzt zu werden. Es werden keine Gegner angegriffen, sondern Opfer. Die Einschätzung der Situation läuft über Körpersprache. Durch eine Körperhaltung, die Abwehrbereitschaft signalisiert und nicht Angst und Unsicherheit, kann man den Angreifer seinerseits verunsichern und eventuell einem Angriff entgehen. Eventuell, aber die Sache mit der Körperhaltung hat noch eine andere Seite. Innere und äußere Haltung bedingen einander. Üblicherweise bedingt der innere Zustand die äußere Haltung. Man kann diesen Effekt aber auch umgekehrt nutzen und durch die äußere Haltung den inneren Zustand beeinflussen. Sich selbst quasi Mut machen.

Eine Körperhaltung überzeugend einzunehmen, die der inneren Verfassung nicht entspricht, ist allerdings sehr schwierig und erfordert ein erhebliches Maß an schauspielerischem Talent. Daher sollte man diesen Effekt in der akuten Situation nicht überschätzen. Es ist eher eine Übung, ähnlich wie autogenes Training, nur um die eigene Selbstsicherheit zu stärken.

Alles was ich bis hierhin aufgeführt habe, hat zwar mit Gewaltprävention, das heißt mit der Vermeidung von Gewalt zu tun, aber nichts mit Jiu-Jitsu. Die beschriebenen Zusammenhänge werden auch üblicherweise nicht im Kampfsporttraining behandelt, sie sind höchstens Gegenstand spezieller Selbstverteidigungs- oder Selbstbehauptungskurse. In diesen Kursen werden teilweise auch Techniken aus dem Jiu Jitsu gelehrt.

Das klassische Jiu Jitsu ist in erster Linie eine Sportart. Jiu Jitsu ist eine Körperschule die sich Techniken zur Selbstverteidigung bedient, um die Motorik, die Ausdauer, die Beweglichkeit, das Gleichgewicht, die Kraft zu entwickeln. Und Sport ist anstrengend, mit Muskelkater und blauen Flecken verbunden. Eine sinnvolle Anwendung von erlernten Techniken im Ernstfall setzt außerdem langwieriges Üben voraus. Man darf hier keine Wunder erwarten. So ist zumindest sehr zweifelhaft, ob die angesprochenen Kurse, die meist nur über wenige Stunden gehen, überhaupt einen nennenswerten Nutzen für den einzelnen Teilnehmer bringen. Man lernt die einzelnen Techniken zwar kennen, aber kennen heißt noch lange nicht können.

Diejenigen, die mit Jiu Jitsu beginnen um in erster Linie ihrem persönlichen Gefühl der Bedrohung etwas entgegenzusetzen, werden daher zwangsläufig enttäuscht. Erfolgserlebnisse sind in den ersten Übungsstunden äußerst spärlich gestreut. Dies gilt besonders dann, wenn auf eine typisch japanische Art geübt wird, nämlich ohne Lob. Man kann dies als geistige Übung verstehen, die aus dem Einfluss des Zen-Buddismus auf die Entwicklung des Jiu Jitsus stammt. Einem Europäer ist das allerdings fremd. Es bedarf also nicht allzu viel Vorstellungskraft um die verheerenden Auswirkungen auf das ohnehin schon angegriffene Selbstbewusstsein eines solchen Anfängers zu begreifen. Es gibt zudem Lehrer, die ihren Schülern raten, sich in jeder x-beliebigen Situation einen Angriff vorzustellen, um darauf reagieren zu können. Hierdurch werden sie aber in ihrer ohnehin schon irrationalen Angst nur noch weiter bestärkt.

Auch muss die Angst vor Bedrohung nicht zwangläufig verschwinden, wenn man erst einmal deutlich über das Anfängerstadium hinauskommt. Es ist nämlich nicht so wie in den einschlägigen Filmen suggeriert wird, dass asiatischer Kampfsport unbesiegbar macht. Gegen einen einzelnen Angreifer, der nicht weiß worauf er sich einlässt, hat man zwar gute Chancen. Aber gegen einen bewaffneten Angreifer oder eine Gruppe sieht die Sache ganz anders aus. Die Angst in eine solche Situation zu geraten, bleibt folglich von noch so viel Trainingsfleiß unbeeindruckt.

Jiu Jitsu einzig und allein deshalb lernen zu wollen weil man sich bedroht fühlt, sei es im Dunkeln auf der Straße, sei es auf dem Schulhof, erscheint also wenig sinnvoll. Ich möchte es einmal so formulieren: „Jemand, der keinen Spaß am Sport hat, der ungern schwitzt, den die blauen Flecken stören, der sich aber dennoch über Jahre ins Dojo schleppt, um sich gegen einen imaginären Angreifer schützen zu können, der braucht gar nicht mehr angegriffen zu werden. Der hat ohnehin schon verloren. Denn er lässt sich zu etwas zwingen, das er eigentlich gar nicht will.“

Andererseits wird der Anspruch erhoben, Jiu-Jitsu biete effektive Techniken zur Selbstverteidigung. Es stellt sich die Frage, in wieweit der übliche Trainingsbetrieb diesen Anspruch erfüllt. Kritisch ist wie aus den bisherigen Ausführungen deutlich wird, besonders der Anfängerbereich. Hier wird vielfach der Schwerpunkt auf die Vermittlung von Basistechniken gelegt. Basistechniken sind wie der Name schon sagt Grundlage, Grundlage für jeden Lernfortschritt. Auch die einfachsten Wurftechniken kann man ohne vorherige Fallschule nicht üben. Gegenüber diesen Basistechniken findet die Vermittlung von einfachen aber wirksamen Abwehrtechniken oft nur geringen Raum. Selbst für solche einfachen Techniken gilt, dass sie erst durch intensives und langwieriges Üben wirklich gelernt werden und so für den einzelnen bei Bedarf auch zur Verfügung stehen.

Für den Lehrer bedeutet dies im Aufbau seines Training gewissermaßen einen Spagat zwischen der Entwicklung von unerlässlichen Basisfertigkeiten einerseits und der möglichst frühen Vermittlung von einfachen Selbstverteidigungstechniken andererseits. Ein jeder Lehrer muss da für sich seinen Schwerpunkt setzen. Zusätzlich dazu muss er sich auch dessen bewusst sein, dass viele seiner Schüler nur über ein geringes Selbstvertrauen verfügen, das es zusätzlich zu den körperlichen Fähigkeiten zu entwickeln gilt.

Für den Schüler bedeutet es, dass er effektive Selbstverteidigung nur dann lernen kann, wenn er bereit ist, viel Zeit und Anstrengung zu investieren. Ohne Spaß an diesem Sport ist ein Scheitern vorprogrammiert.

Wer diesen Spaß jedoch findet, für den kann sich Jiu Jitsu zu einer faszinierenden Sache entwickeln. Es schult das Körpergefühl, entwickelt die Koordination, verbessert das Gleichgewicht, die Kraft, die Ausdauer und die Körperhaltung. Jiu Jitsu ist ungeheuer vielseitig und anpassungsfähig an die körperlichen Vorraussetzungen der Schüler. Ein älterer Mensch wird andere Techniken bevorzugen als ein jüngerer, Frauen andere als Männer, alle aber betreiben sie Jiu Jitsu. Im Laufe der Zeit tritt der Selbstverteidigungsaspekt mehr und mehr in den Hintergrund. Bei einigen Techniken, die höchste Anforderungen an die Koordination stellen, werden die Grenzen zur Akrobatik fließend. Oder einzelne Bewegungsabfolgen werden völlig aus dem Zusammenhang gerissen und einzeln nur zur Bewegungsschule geübt.

Dazu gibt es natürlich die Techniken, die im Falle eines Angriffs sehr wirksam aber auch sehr folgenschwer sein können. Aber die sind nicht für jede unangenehme Situation oder Aufdringlichkeit, in der eine rein verbale Abwehr nicht mehr wirkt, geeignet. Auch für solche Situationen, ich will sie mal „Übergriffe“ nennen, lernt man eine Vielzahl von Gegenmaßnahmen. Im Laufe der Zeit kann man also ein Repertoire an Fertigkeiten entwickeln die ein hohes Maß an Flexibilität in schwierigen Situationen ermöglichen.

Steigert Kampfsport die Gewaltbereitschaft?

Hier setzt aber auch die Kritik an Kampfsport an. Es wird der Vorwurf erhoben, dass Kampfsportler sich quasi bewaffnen. Friedliches Konfliktlöseverhalten würde für sie überflüssig. Durch die permanente (Aus)-Übung von Gewalt würde zudem die Gewaltbereitschaft steigen.

Dem gegenüber stehen aber die Behauptungen der Budo-Verbände, gerade japanische Kampfsportarten hätten einen positiven erzieherischen Aspekt. Budo-Sportarten dienten neben der rein sportlichen Seite auch und gerade zur Charakterschulung. Wer hat nun recht?

Sport hat im allgemeinen einen positiven Einfluss auf die Persönlichkeitsbildung. Die bundesweite Plakataktion der Sportvereine zur Suchtprävention dürfte noch in Erinnerung sein. Was für die Suchtprävention gilt, hat aber auch für die Gewaltprävention Bedeutung.

Eine wichtige Zielgruppe für Gewaltprävention im Sinne von Reduktion der Gewaltbereitschaft sind männliche Jugendliche und junge Erwachsene. Diese Gruppe ist besonders anfällig für auffällige Verhaltensweisen wie Vandalismus oder gewalttätige Auseinandersetzungen.

Attraktive Sportangebote für diese Zielgruppe müssen Gelegenheit bieten, Bewegungsdrang, Abenteuerlust und auch Aggression in spielerischer Art auszuleben. Messbare Leistung ist dabei nebensächlich. Viele der üblichen Vereinssportarten erfüllen diese Ansprüche jedoch nicht. Anders die Kampfsportarten, sie bieten Raum für eben diese Bedürfnisse. Hieraus erklärt sich zusätzlich zu den im ersten Teil dieser Arbeit dargelegten Motiven das hohe Interesse von Jugendlichen am Kampfsport.

Wie bereits erwähnt ist Kampfsport die spielerische und ritualisierte Ausübung von Gewalt. Damit dies nicht zu einer Prägung aggressiver Weltbilder und gewaltförmiger Handlungsweisen führt, herrscht im Dojo ein strenger Verhaltenskodex, die Etikette.

Die Etikette regelt das Verhalten im Dojo und und die Beziehungen innerhalb der Gruppe. Sie schafft eine besondere Atmosphäre höchster Konzentration, die in diametralem Gegensatz zur reizüberfluteten Welt außerhalb des Dojos steht. Ein weiteres wesentliches Kennzeichen dieser Atmoshäre ist der gegenseitige Respekt und der höfliche Umgang miteinander. Die Etikette setzt klar definierte Grenzen, bietet aber auch Verlässlichkeit und Schutz.

Jiu-Jitsu ist ein anspruchvoller vielseitiger Sport in dem nicht der Wettbewerb gegen andere im Vordergrund steht, sondern die persönlichen Fortschritte des einzelnen. Jeder einzelne erlebt Erfolge. Erfolgserlebnisse sind wichtig zur Bildung von Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl. Sie beeinflussen so positiv die Persönlichkeitsbildung.

Vielfach wird behauptet, durch Kampfsport würden Aggressionen abgebaut. Diese Argumentation ist aber sehr oberflächlich und greift zu kurz. Denn neben den Erfolgen stehen auch Misserfolge und Frustrationen, die es zu verarbeiten gilt. Hierdurch entstehen zwangsläufig Aggressionen. Durch die spielerische Ausübung von Gewalt werden zusätzliche Aggressionen geweckt. Dies ist aber die Chance, sein eigenes Aggressionspotential überhaupt erst kennenzulernen. Nur was man kennt, kann man auch kontrollieren und in positive Bahnen lenken. Durch die Einhaltung der Etikette, die emotionale Äußerungen streng kontrolliert, wird dies automatisch geübt. Man braucht dies nur einmal mit der emotionsgeladenen Stimmung auf einem beliebigen Fußballplatz zu vergleichen um zu verstehen, dass der Einfluss auf die Persönlichkeitsbildung im klassischen Budo-Sport eine ganz andere Qualität hat.

Durch den gegenseitigen Respekt und die Verpflichtung zu höflichem Umgang miteinander wird man gezwungen, sich auch mit schwierigen Persönlichkeiten auseinanderzusetzen und lernt dadurch Toleranz. Die Betroffenen selber wiederum finden im Dojo die Akzeptanz, die Ihnen draußen oft fehlt. Dies ist so bei anderen Sportarten nicht immer der Fall. Im Mannschaftssport, bei dem es um Wettkämpfe geht, sind die sog. Verlierertypen nicht zu gebrauchen und erfahren oft Ausgrenzung. Im Budo-Sport sind sie gleichberechtigte Trainingspartner.

Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass es in der sog. Erlebnispädagogik tatsächlich Kampfsportangebote für problematische Jugendliche gibt. Sie sollen dadurch den sozialverträglichen Umgang mit Aggressionen lernen. Diese Jugendlichen weisen große Erziehungsdefizite sowie Probleme bei der sozialen Integration auf. Sie sind häufig in Familienstrukturen aufgewachsen, die ungünstige Vorraussetzungen für soziales Lernen bieten. Oft haben sie Gewalt als einziges Interaktionsmittel erfahren. Dafür ist ihnen die Gültigkeit und Verlässlichkeit von Regeln größtenteils unbekannt. Ohne Regeln kann aber keine Gesellschaft funktionieren. Wenn man noch berücksichtigt, dass unsere moderne Wohn- und Lebensbedingungen den Erlebnisdrang junger Menschen erheblich einschränkt, hat man eine ganze Palette von Erklärungen für deren auffälliges Verhalten. Diese Erklärungen sollen aber nicht als Entschuldigung verstanden werden. Sie zeigen aber auf, welche Mängel ausgeglichen werden müssen, wenn erfolgreich einer erhöhten Gewaltbereitschaft besonders von Jugendlichen entgegengewirkt werden soll. Aus den vorangegangenen Darstellungen wird deutlich, dass die klassischen japanischen Kampfsportarten und damit auch Jiu-Jitsu hierzu besonders geeignet sind.

Jiu-Jitsu bietet Gelegenheit zum Ausleben des Bewegungsdranges, bietet Grenzerfahrungen und Abenteuer. Jiu-Jitsu ist aber auch Ordnung, bietet Orientierung und Verhaltenssicherheit durch den strengen Verhaltenskodex. So wird ein geschützter Rahmen geschaffen, um Unsicherheit, Wut und Aggression kennen- und damit kontrollieren zu lernen. Hierdurch kann man die innere Sicherheit erwerben, auf Provokationen gelassen zu reagieren.

Eine große Verantwortung kommt dabei dem Lehrer zu. Er muss dafür Sorge tragen, dass die Rahmenbedingungen stimmen. Er muss nicht nur motivieren, korrigieren, Grenzen setzen können. Er muss in erster Linie Vorbild sein. Er muss seinen Schülern den gleichen Respekt entgegenbringen, den er von ihnen erwartet. Die Verpflichtung zu höflichem Umgang miteinander gilt erst recht für ihn. Dies ist übrigens das fundamentale Lehrprinzip ohne das in den Budo-Sportarten gar nichts geht, das Prinzip von Vormachen bzw. Vorleben und nachmachen und wiederholen.

Die Budo-Sportarten unterscheiden sich von anderen Sportarten im wesentlichen durch den strengen Verhaltenskodex. Dieser macht die besondere Qualität der Charakterschulung aus. Wird auf diese Regeln kein Wert gelegt, reicht der positive Effekt auf die Persönlichkeitsbildung bestenfalls an den anderer Sportarten heran. Wenn diese Regeln jedoch einseitig gebraucht werden um hierarchisch autoritäre Strukturen zu pflegen, kann sich dies aber auch leicht ins Gegenteil verkehren.

Mit militärischem Drill anstelle konsequenten Übens kann man eine schwache Persönlichkeit nicht aufbauen. Es dämpft auch nicht gerade die Gewaltbereitschaft, wenn man dazu angehalten wird, sich jeden beliebigen Passanten als Angreifer vorzustellen.

Aber nicht nur Einzelpersonen können in ihrer Persönlichkeitsentwicklung negativ beeinflusst werden. Innerhalb von autoritären Hierarchien können gruppendynamische Prozesse ablaufen, die Gewaltausbrüche begünstigen. Eine Studie zur fremdenfeindlichen Gewalt in Ostdeutschland hat ergeben, dass gerade "Ninja-Gruppen" in hohem Maße an Gewalttaten gegen Ausländer beteiligt sind. Auch die Brandstifter von Solingen haben regelmäßig Kampfsporttraining betrieben. Bei diesen Beispielen liegt die Vermutung nahe, dass hier eine allgemeine diffuse Ablehnung Ausländern gegenüber innerhalb dieser Gruppen zusätzlich aufgebaut wurde und die Aggressivität und Gewaltbereitschaft nicht zuletzt durch das Kampfsporttraining soweit geschürt wurde, dass es zu diesen Übergriffen gekommen ist.

Es ist nicht nachzuvollziehen, inwieweit besagte "Ninja-Gruppen" an seriöse Kampfsportverbände angeschlossen waren. Dies ist wohl eher nicht der Fall. Zumindest die Solinger Kampfsportschule war schon lange vor dem Anschlag keinem namhaften Verband mehr zugehörig. Trotzdem gerät durch solche Vorkommnisse eine Sportart in Verruf die ansonsten ein großes Potential für positive Entwicklungen bietet.

Zusammenfassung

Budo-Sportarten trainieren die allgemeine körperliche Fitness so umfassend, wie kaum eine andere Sportart. Dazu kommt noch eine ungeheure Vielseitigkeit, so dass für diejenigen, die Spaß an der Sache finden, dieser Sport nie langweilig werden muss. Jiu-Jitsu ist eine Budo-Sportart, die den Anspruch erhebt, effektive Techniken zur Selbstverteidigung zu vermitteln. Die Fähigkeit zu wirklich effektiver Selbstverteidigung stellt sich allerdings erst nach längerer Zeit intensiven Übens ein. Um diese Fähigkeit zu erwerben, benötigt man in erster Linie Geduld. Auch hier ist der Spaß an der Sache unerlässlich, sonst ist ein Scheitern vorprogrammiert. Als alleiniger Grund für das Erlernen von Jiu-Jitsu erscheint der Aufwand unverhältnismäßig hoch.

Neben der rein sportlichen Seite wird in den Budo-Sportarten besonderer Wert auf die Charakterschule und Persönlichkeitsbildung gelegt. Diese Charakterschule umfasst im wesentlichen soziales Lernen sowie den Umgang mit Emotionen. Hierdurch bietet sich die Chance Aggressionen zu zivilisieren und somit Gewaltbereitschaft zu reduzieren. Dem Lehrer kommt dabei allerdings ein sehr hohes Maß an Verantwortung und Vorbildfunktion zu.

Sindorf, den 21.Oktober 1999
Claudia Schröder

Quellen:
Colin Goldner: Fernöstlicher Kampfsport, AHP München 1992
Arbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz, Landesstelle NRW e. V.: Materialien zum Thema "Gewalt und Gewaltprävention"
Kölner Stadt-Anzeiger, Nr. 208, 6. September 1999: Viele fühlen sich nachts auf der Straße sicher
Bericht der Bayrischen Staatsregierung September 1994: Jugend und Gewalt
Helmut Willems: Fremdenfeindliche Gewalt, Verlag Leske und Budrich, Obladen 1993


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