Etikette im Jiu Jitsu – Notwendigkeit oder reaktionäres Element?
Die meisten Anfänger, aber auch viele Fortgeschrittene stehen dem strengen Verhaltenskodex im Dojo, der Etikette, mit einem gewissen Unverständnis gegenüber. Man empfindet sie als Einschränkung der Persönlichkeit, ähnlich wie Befehle beim Militär oder Vorschriften im Schulalltag. Besonders in der Anfangszeit kostet es Überwindung nach Feierabend endlich den Zwängen des Berufslebens (Krawattenzwang, den guten Umgangston zu wahren, selbst wenn einem schon fast der Kragen platzt etc.) entflohen zu sein, um sich sofort wieder den Regeln der Etikette im Dojo unterzuordnen.
Nachfolgende Erläuterungen sollen dazu dienen, dass die Etikette nicht als hemmende Einschränkung, sondern als eine Bereicherung und sinnvolle Verhaltensregel empfunden wird.
Menschliche Gemeinschaften funktionieren auf allen Ebenen grundsätzlich nach einem allgemein anerkannten Regelwerk. Auch in anderen Sportarten gibt es Regeln, an die sich alle zu halten haben. Und das gilt nicht nur für Wettkämpfe, sondern auch für den ganz normalen Trainingsbetrieb. Im Dojo ist dieses Ordnungsprinzip und Regelwerk die Etikette. Aber sie ist mehr als nur ein Rahmen für den äußerlichen Übungsbetrieb. Sie ist auch Anleitung zur inneren Übung, zur Charakterschulung. Im Gegensatz zu anderen Sportarten, in denen Auswirkungen des sportlichen Tuns auf den Charakter allenfalls als positiver Nebeneffekt gesehen wird, ist in den traditionellen japanischen Kampfsportarten diese Charakterschulung ein wesentlicher Bestandteil.
Jedes Dojo hat seine eigene Etikette. Ob es nun ein Jiu Jitsu -, Karate -, Judo - oder Aikido - Dojo ist, die Verhaltensregeln sind überall ähnlich. Dies deutet auf den gemeinsamen Ursprung aller dieser Kampfsportarten hin. In einigen Dojos geht es locker zu, in anderen etwas strenger. Es gibt sehr umfangreiche Verhaltensregeln aber auch solche, die sich nur auf die Grundregeln beschränken. Die Etikette ist schriftlich niedergelegt und jedem Budoka zugänglich.
Die Etikette regelt 1. Das Verhalten im Dojo. 2. Das Verhältnis zum Sensei. 3. Das Verhältnis untereinander.
Die Etikette schafft eine besondere Atmosphäre. Diese Atmosphäre ist im wesentlichen gekennzeichnet durch den gegenseitigen Respekt und höflichen Umgang miteinander sowie eine sehr hohe Konzentration. Konzentration gibt es auch in anderen Sportarten. Hier heißt sie mentales Training, und wird in erster Linie für diejenigen wichtig, die besondere Leistungen anstreben. Für den Freizeitsportler ist das im allgemeinen nicht so wichtig.
Im Jiu Jitsu ist das grundsätzlich anders. Um hier auch nur die Grundbegriffe mitzubekommen, ist größte Aufmerksamkeit notwendig.
Die besondere, von höchster Konzentration und gegenseitigen Respekt bestimmte Atmosphäre hat aber noch einen weiteren wichtigen Aspekt. Budo-Techniken sind größtenteils darauf ausgerichtet, erhebliche Verletzungen zu bewirken. Das Verletzungsrisiko in den Budo-Sportarten ist im Vergleich zu anderen Sportarten relativ gering. Es ist leicht einzusehen, dass die besondere Atmosphäre hierzu entscheidend beiträgt.
Diese Atmosphäre entsteht durch die innere Kontrolle der Übenden. Es geht in den Budo-Sportarten eben nicht nur darum, seine äußeren Bewegungen, sondern auch seine Emotionen zu kontrollieren. Die innere Kontrolle bedingt die äußere.
Wie bereits erwähnt, gibt es drei Bereiche, die durch die Etikette geregelt werden. Die meisten Regeln lassen sich einem dieser drei Bereiche zuordnen. Die Vorgaben für das Verhalten im Dojo setzen schon vor dem Betreten desselben ein.
Das Schonen und Sauberhalten der Tatami ist leicht verständlich. Tatami sind teuer und besonders für kleinere Breitensportvereine nicht leicht ersetzbar. Dazu gehört auch, das Dojo nicht mit Straßenschuhen zu betreten sondern mit Sandalen von der Umkleide ins Dojo zu gehen.
Vor dem Betreten des Dojo soll der Keikogi ordentlich sitzen und der Obi richtig mit gleich langen Enden gebunden sein. Äußere und innere Form bedingen sich gegenseitig. Dies ist der erste Schritt "aufgeräumt" ins Dojo zugehen. In den meisten Dojos ist ein bestimmter einheitlicher Gi vorgeschrieben. Dieser einheitliche Anzug symbolisiert die Gleichwertigkeit aller Übenden und den Zusammenhalt der Gruppe. Der einzige Unterschied zwischen den einzelnen besteht in der Farbe des Gürtels.
Verneigung beim Betreten des Dojos und Reduzierung der Lautstärke: Man verlässt den Alltag, nimmt davon Abstand und betritt eine eigene Welt mit den darin geltenden Regeln. Der Gruß ist ein sich vielfach wiederholendes zentrales Element der Etikette. Er ist Ausdruck des Willens seine äußere wie auch seine innere Form zu verbessern und in Einklang zu bringen. Die äußere Form ist der sportliche Aspekt des Jiu Jitsu, das Erlernen und ständige Verbessern der Technik. Die innere Form ist die Kontrolle der eigenen Gedanken und Emotionen sowie gegenseitige Achtung und Respekt.
Alle sollen pünktlich zum Training erscheinen, nicht erst nach dem Mattenaufbau oder beim Angrüßen. Pünktlichkeit ist eine Sache der Höflichkeit den anderen gegenüber. Wer immer zu spät kommt, grenzt sich selbst aus der Gemeinschaft aus und gilt als Drückeberger, oder asozial. Wer beim oder nach dem Angrüßen kommt stört die Atmosphäre und bringt Unruhe ins Dojo.
Verhalten bei Verspätung: Keine Regel ist absolut. Die Etikette ist kein starres Regelwerk das keine Ausnahmen zulässt. Zur Pünktlichkeit gibt es Ausnahmen. Mit einem triftigen Grund ist man entschuldigt. Dies gilt auch wenn man die Matte vorzeitig verlassen muss oder wenn man nicht am Mattenabbau teilnehmen kann. Aus Respekt vor den anderen muss man sich hierfür jedoch rechtfertigen.
Die Schüler nehmen nach Gürtelfarben geordnet gegenüber dem Lehrer Aufstellung. Somit kommt sofort Ordnung in den beginnenden Ablauf. Jeder hat "seinen" Platz in der Gemeinschaft. An der Gürtelfarbe ist der Lernfortschritt und die Erfahrung des einzelnen erkennbar. Hierin orientiert sich die Rangfolge im Dojo. Auch gibt diese Rangordnung Ansporn, mit der Zeit immer weiter nach rechts zu rücken.
Am Anfang wie am Ende der Übungsstunde steht der gemeinsame Gruß, oft auch in Verbindung mit einigen Meditationsminuten. Die Begrüßung "Rei" hat den Sinn, während der Meditationsminuten vom täglichen Ärger und Stress abzuschalten und sich für das nun folgende Training zu sammeln. Die Meditation am Ende bewirkt ein Entspannen und das Ausklingenlassen der Übungsstunde nach einem oft anstrengenden und kräftezehrenden Training. Diese innere Sammlung und das "Schweifenlassen der Gedanken" erleichtert den Übergang zur Tagesordnung.
In einigen Dojos wird auch ein Bild des Stilbegründers oder sogar ein Altar, die Kamiza angegrüßt: Dies ist für die meisten schwer oder überhaupt nicht nachvollziehbar, wenn man die Sache ernst nimmt. Richtig übersetzt heißt Kamiza "Platz der Götter". Macht sich nun ein zu irgendeiner Religion zugehöriger Budoka einmal bewusst Gedanken über diesen Vorgang, so ist dies für ihn nicht akzeptierbar, da es fast schon an Blasphemie grenzt. Ebenso kann ein überzeugter Atheist nicht plötzlich wieder Götter grüßen, nur weil es in der Etikette steht. Man sollte dies jedem selbst überlassen.
Selbstlos, bescheiden, höflich und mit innerer Anteilnahme trainieren. Wenn sich alle so verhalten, ist die Voraussetzung für ein angenehmes und effektives Training gegeben. Fleißiges Üben ist Voraussetzung für Erfolg. Geschieht dieses jedoch ohne innere Anteilnahme, ist der Lernerfolg geringer. Innere Anteilnahme macht nicht nur das Erlernen der äußeren Form effektiver. Sie ist unbedingte Vorrausetzung für die Entwicklung der Persönlichkeit. Durch die permanente Selbstbeobachtung lernt man die eigenen Reaktionen auf Erfolg oder Misserfolg sehr genau kennen, und nur was man kennt, kann man auch kontrollieren. So geht es nicht darum, vordergründig jegliche äußere Reaktion zu unterdrücken. Es geht vielmehr darum, zu lernen mit inneren Reaktionen so umzugehen, dass eine unangemessenen äußere Reaktion unterbleibt.
Der Sensei ist die oberste Autorität auf der Matte und die Schüler haben seinen Anweisungen ohne viel Fragen zu folgen: Lehrmethode ist in den Budo – Künsten die uralte Methode des Vormachens, Nachmachens und Wiederholens. Diese Art zu lernen ist dem Menschen im westlichen Kulturkreis fremd und macht ihm große Schwierigkeiten. Hier ist Intuition und Geduld erforderlich, da sich die Dinge nicht sofort offenbaren. Der Europäer möchte sofort wissen "warum" etwas so und nicht anders ist. Es ist für ihn nicht leicht dem Lehrer zu vertrauen, abzuwarten und irgend wann einmal durch Selbsterfahrung die Dinge zu begreifen. Im Westen werden die Schüler immer wieder aufgefordert, Fragen zu stellen, nach dem Motto: "Wer nicht fragt bleibt dumm" und analytisch vorzugehen. Diese Vorgehensweise würde im Kampfsport durch lange Diskussionen den Übungsablauf empfindlich stören. Das soll allerdings nicht heißen, niemals Fragen zu stellen. Zum richtigen Zeitpunkt, den Meister zu fragen lernt man mit der Zeit.
Ein Verlassen der Matte ist ohne triftigen Grund nicht gestattet. Wer von der Matte gehen will, hat sich beim Sensei abzumelden: dies ist eine indirekte Hemmschwelle die Matte nach Lust und Laune zu verlassen. Unruhe und Unaufmerksamkeit würden dadurch entstehen. Außerdem behält der Lehrer dadurch den Überblick über die Gruppe und erfährt außerdem, wer mit einer Verletzung oder Kreislaufstörung etc. die Matte verlassen muss. Damit kann er auch die Verantwortung für o. g. Fälle behalten. Diese Regel hat den erzieherischen Aspekt, dass jeder soweit vorbereitet auf die Matte gehen soll, dass er sich anschließend ausschließlich dem Geschehen dort widmen kann. Wer ohne sein Programm oder Trainingsmaterialien üben muss, wird in Zukunft daran denken.
Auch das Verhalten bei Übungsunterbrechung ist fest geregelt. Die Schüler unterbrechen ihre eigene Übung augenblicklich und stellen oder setzten sich so, dass sie sich nicht gegenseitig behindern. Hierbei ist eine Haltung einzunehmen, die höchste Aufmerksamkeit signalisiert. Auch hier wirkt das Wechselspiel zwischen äußerer und innerer Form. Die äußerlich aufmerksame Haltung beeinflusst die tatsächliche Aufmerksamkeit. Außerdem ist dies ein Akt der Höflichkeit dem Sensei gegenüber. Wenn das Auditorium sich gelangweilt zeigt, so macht das Lehren keinen Spaß
Die herausragende Stellung des Sensei im Dojo stellt aber auch gerade an seine Persönlichkeit besondere Anforderungen. Er hat nicht nur seine Techniken meisterlich zu beherrschen. Er muss vielmehr auch was die innere Haltung angeht, seiner Vorbildfunktion gerecht werden. Er ist die Respektsperson im Dojo schlechthin. Respekt jedoch beruht immer auf Gegenseitigkeit und ein Lehrer, der seinen Schülern keinen aufrichtigen Respekt entgegenbringt, verliert sehr schnell seine Glaubwürdigkeit.
Außer dem Verhältnis zum Sensei, ist auch das Verhältnis zum Trainingspartner von gegenseitigem Respekt gekennzeichnet. Dieser Respekt ist sehr wichtig, denn wer seinen Partner nicht respektiert, geht auch leichtfertig mit ihm um. Zu diesem Respekt gehört auch, was eigentlich selbstverständlich ist, die Körperhygiene. Keiner wird gerne mit einem Partner in engen Körperkontakt treten, wenn dieser nach altem Schweiß riecht und der Keikogi seit Wochen nicht mehr gewaschen wurde. Als Trainingspartner wird dieser auf Dauer gemieden werden.
Nicht nur eine Belästigung des Partners durch mangelhafte Hygiene hat zu unterbleiben, es soll auch alles unterbleiben, was ein zusätzliches Verletzungsrisiko mit sich bringt. Deshalb darf auf der Matte kein Schmuck getragen werden und Fuß- und Fingernägel sind kurz zu halten. Dies spricht eigentlich für sich, denn es können gerade mit Finger- und Ohrringen ernsthafte Verletzungen entstehen. Aber auch harmlose Kratzer sind ärgerlich. Jeder Blutfleck auf irgend einem Keikogi oder auf der Matte ist überflüssig. Obendrein besteht noch Infektionsgefahr.
In der Etikette wird oft auch das Verhalten gegenüber Schwächeren oder Stärkeren angesprochen. Dies gehört zur Charakterschulung und Sozialverhalten. Rücksichtnahme gegenüber dem Schwächeren sollte eigentlich selbstverständlich sein. Anderseits sollte jeder Trainingspartner so gefordert werden, wie es seinen Fähigkeiten entspricht, nicht mehr aber auch nicht weniger. Die Pratze wird beispielsweise so hoch gehalten, wie der Trainingspartner in der Lage ist zu treten. Es ist nicht üblich auf den Schwächeren herumzuhacken oder diesen lächerlich zu machen. Auch sollte man nicht mit dem Partner nach dem Motto trainieren: "Gelobt sei, was hart macht". Andererseits hat jeder sein Bestes zu geben, denn Schwäche ist keine Ausrede für Faulheit. Der Schwächere ist dazu angehalten, sich zu behaupten, das heißt er muss auch selbst dafür Verantwortung übernehmen, dass er etwas lernt und nicht nur die Knochen als Uke hinhält.
Es darf niemand von der im Dojo herrschenden Ordnung ausgegrenzt werden. Es hat jeder mit jedem zu üben. Man hört oft den Satz:" Jeder Partner ist ein guter Partner "oder "Jeder Partner ist für dich der beste". Dies ist ein schwer zu akzeptierender Punkt. Denn jeder hat sehr schnell seinen Lieblingspartner gefunden. Andererseits gibt es Partner mit denen man nicht so gut zurechtkommt. Sie sind zu groß oder zu klein, zu schwer zu werfen, zu schwer von Begriff, rücksichtslos. Gerade an diesen Partnern kann man seine Fähigkeiten verbessern und so lernen auf ungewöhnliches Verhalten zu reagieren. Dies ist allerdings nur vordergründig. Der wirklich entscheidende Aspekt dieser Regel ist das soziale Lernen. Man lernt die Geduld, mit solchen unbequemen Partnern zurechtzukommen. Diese Erfahrung kann man dann auch in ähnlich unbequemen Situationen außerhalb des Dojos nutzen. Ein weiterer Aspekt dieses sozialen Lernens betrifft diese unbeliebten Partner selbst. Oft handelt es sich um Menschen, die auch außerhalb des Dojos leicht ausgegrenzt werden. Eben diese Ausgrenzung soll nicht stattfinden. Die Erfahrung, akzeptiert zu werden, ist gerade für diese besonders wichtig.
Mit einer Verbeugung vor dem neuen Partner bezeugt man seine Achtung vor dem anderen. Dies tun auch westliche Boxer, indem sie vor dem ersten Schlagabtausch kurz mit ihren Boxhandschuhen gegen die Handschuhe des Gegners stoßen. Die Verbeugung bietet einem auch gleichzeitig die Gelegenheit sich zu sammeln und den Keikogi zu ordnen.
Handeln statt reden: Jiu Jitsu ist eine motorisch anspruchsvolle Sportart. Motorik lernt man nur durch Bewegung. Jedes Gespräch verkürzt die Trainingszeit, auch die des Übungspartners. Außerdem stören Gespräche die konzentrierte Atmosphäre im Dojo.
Durch das Gebot, nicht mehr als unbedingt nötig zu reden und sich Gefühlsäußerungen zu enthalten, macht man die Erfahrung, dass sich einem durch Selbstbeschränkung Perspektiven des eigenen Selbst eröffnen, die einem sonst verschlossen blieben.
09.04.1999
Hubertus Webert
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